Flasche geöffnet, was nun?
Naturweine sind lebendige Individuen, jede Flasche hat ihren Charakter. Der erzieherische Touch, der ihr aus der Kindheit mitgegeben wurde, eint sie mit ihren Geschwisterflaschen – doch danach machen sie ihre individuellen Erfahrungen und erlangen die Prägung ihrer Erwachsenenzeit.
Die Essenz dieser verschwurbelten Einleitung ist: Jede Flasche hat einen optimalen Zeitpunkt der Reife - und den schicksalhaften Moment ihres Lebens, an dem sie getrunken wird. Wir als Weinenthusiasten können nur versuchen, die beiden Zeitpunkte zusammenzubringen (dazu gibt es mehr in unserem Beitrag zur Lagerung).
Ist ein Wein erst einmal geöffnet, gibt es kein Zurück mehr. Dann startet ein Prozess, der insbesondere bei Naturweinen sehr faszinierend ist, und mit dem zu befassen es sich lohnt.
Ihr werdet auf Flaschen stoßen, bei denen ihr die richtige Entscheidung trefft, sie noch am selben Abend zu leeren. Doch wird es auch Flaschen geben, bei deren erstem Glas Euch ein nachdenkliches “Hhhmmm” durch den Kopf gehen wird.
Die Komplexität und Struktur, verliehen durch eine Maischegärung oder Standzeit zum Beispiel, verlangt nach langsamem Trinken. Dann wisst ihr, es könnte sich lohnen diese Flasche über ein paar Tage zu beobachten. Die Feuerprobe eines Naturweins ist normalerweise nach einer Woche bestanden. Da sie ungeschwefelt sind, sollte ihnen nicht die Erwartung zugemutet werden, sich danach noch merklich (oder überhaupt) zu verbessern. Aber genug Theorie, werden wir mal konkret.
Wenn ich von Lagerung im Anbruch spreche, heißt das natürlich: Bei wieder verschlossener, im Kühlschrank stehender Flasche.
Apropos Kühlschrank, dazu ein kleiner Einschub: Vergesst bitte die einfache Regel "Weißwein kalt, Rotwein bei Zimmertemperatur". Jeder Wein hat seine eigene Idealtemperatur. Leichte Rotweine sollten ruhig etwas kühler getrunken werden (kleine Randbemerkung: Früher waren "Zimmer" auch nicht so warm wie heute), und Weißweine mit Maischegärung entfalten ihr Potential noch nicht bei Kühlschranktemperaturen.
Doch zurück zur offenen Flasche: Es lohnt sich, den Wein einmal pro Tag glasweise zu probieren. Bei großen Veränderungen kann auch ein zusätzliches, morgendliches Probieren interessant sein (Spucken nicht vergessen!).
Pauschal lässt sich nie sagen, welche Veränderung ihr schmecken werdet. Manche Arome werden sich verstärken, manche sich abschwächen oder gar verschwinden, andere erst auftreten. Wenn ihr das Gefühl habt, der Wein überschreitet, sagen wir am dritten Abend seinen Zenit, ist es Zeit das Experiment zu beenden, und den Rest der Flasche zu genießen.
Und wie schon oben erwähnt: Solltet ihr beim ersten Öffnen den Wunsch verspüren, den Wein direkt zu trinken, fühlt euch nicht zu Experimenten verpflichtet, und lasst dem Trinkspaß freien Lauf!
Nick Hanel